Bei der erstem Tagung der neugewählten Dekanatssynode am Samstag, 15. März, hatte Dr. Jonathan Robker, Gemeindepfarrer aus Weißenhorn, folgendes bibelbezogenes Impulsreferat zum Thema „Veränderungen in unserer Kirche – Herausforderung und Chance“ gehalten:
„Des Herren Lied singen im fremden Lande“ (Psalm 137,4)
Das Alte Testament kennt die Vorstellung eines Heiligen Landes für das Gottes Volk. Das dürfte bekannt sein. Das Exil von diesem Heiligen Land stellt in biblischer Darstellung eine bestimmte und von Gott gegen das Gottesvolk bestellte Strafe dar. Auch das dürfte bekannt sein. Demgegenüber stehen jedoch Bilder eines gesegneten und erfolgreichen Lebens des Gottesvolkes im Ausland, d.h. außerhalb des verheißenen, heiligen Landes. So entdeckt man in der Bibel Ideen über Gottes Beziehung zum Volk, die sowohl ans Land gebunden sind als auch über dessen Grenzen hinausstrahlen. Diese Vorstellung entwickelte sich – mit dem Glauben der Betroffen gesprochen – durch die Erkenntnis, dass Gott das Volk über die Grenzen Israels und Palästinas hinaus segnet und begleitet. Gläubige waren bemüht, die Beziehung zu Gott aufrecht zu erhalten. Gerade entgegen der großen Katastrophe der (wiederholten) Eroberung des heiligen Landes durch fremden Völker und die Zerstörung des Heiligtums, des Wohnsitzes (im altorientalischen Verständnis) Gottes fand der Glaube des Gottesvolkes seinen Ausdruck im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit und Gnade. Die Vorstellung von Gottes Anwesenheit trotz katastrophaler Zustände fand unterschiedlichen Ausdruck in alttestamentlichen Texten. Hier biete ich ein paar Beispiele:
Jeremia 29: In einem Brief an den Exilierten des Gottesvolkes, das sich in Mesopotamien befindet, ermutigt Jeremia die Gemeinde, sich heimisch zu machen. Sie sollten sich nicht komplett von den Einheimischen fernhalten, sondern sich am Leben im neuen politischen, ethnischen und religiösen Umfeld beteiligen.
Hesekiel 11: Der Prophet und Priester sieht in einer Vision bzw. bei einer (visionären?) Entrückung nach Jerusalem, wie sich Gott gegenüber dem Gottesvolk verhält. Die Leute, die im Land geblieben sind (also nicht im Exil waren) beteuerten, dass Gott nicht mit den Exilierten war. Dagegen äußert sich Hesekiel mit dem Bericht aus seiner visionären Erfahrung: nämlich, dass Gottes „Heiligkeit“, also die physische Manifestation von Gottes Anwesenheit, die heilige Stadt verlassen hat und mit ins Exil gegangen ist.
1. Mose 41: Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern gehört vermutlich noch zum Grundbestand der meistgekannten biblischen Geschichten. In dieser Geschichte kann Josef als Bildnis, als Metapher für einen Ausgewiesenen aus dem Gottesvolk interpretiert werden. Die Geschichte berichtet von einem buchstäblich weggeschmissenen und verkauften Mann, der aus der Sklaverei und Gefangenschaft den Weg zum Hof des größten Königs seiner Zeit geht. Sein Vertrauen auf Gott, sein Glaube hält ihn aufrecht, lässt ihn alle Demütigungen überwinden und er wird selbst vom Pharao – der sich selbst für einen Gott hält! – als gesegnet von Gott erkannt.
Daniel 6: Auch die legendäre Figur Daniel erfährt Höhen und Tiefen in seinem Leben im Exil. Wie Josef schafft er es laut biblischer Erzählung bis ganz oben in das vorherrschende Königreich der Perser. Er wird zum Vertrauten des Großkönigs. Doch durch eine politisch motivierte Intrige wird er verdächtigt, sich gegen den König gestellt zu haben. Als Strafe wird er in die Löwengrube geschmissen. Diese Erfahrung überlebt er, was den Großkönig der Perser dazu bewegt, sich öffentlich zu Daniels Gott zu bekennen.
Ester 2: Ester, eine Frau aus der judäischen Diaspora, steigt zur Königin von Persien auf. Ihr Vertrauen auf Gott motiviert sie, diese Stelle anzunehmen. Wichtiger noch: Durch ihre Position am Hof schafft sie es, letztendlich ein Pogrom gegen das Gottesvolk zu verhindern. Das Ereignis, das im Buch Ester beschrieben wird, wird heute im Judentum an Purim (dem Fasching ähnlich) gefeiert.
Durch solche Texte entsteht ein vielfältiges Bild vom Gottesvolk in Beziehung auf ihr Land und ihr Heiligtum. In erster Linie denkt man an die Trauer, die durch die Zerstörung des Tempels und das Exil aus dem verheißenen Land entstand. Doch die Bibel kennt auch Geschichten, die vom Erfolg des Gottesvolks im Ausland berichten, selbst in schwierigsten Situationen der Verfolgung (vgl. Ester).
Über die normalen kanonischen Schriften des Judentums und der Protestanten hinaus enthält das Alte Testament weitere solche Geschichten. Die Septuaginta (die griechische Fassung des Alten Testaments) berichtet noch die Geschichte von Tobit, einem erfolgreichen und frommen jüdischen Geschäftsmann in der Diaspora, und von einer bedrohten Gemeinde im hellenisierten Ägypten (3. Makkabäer). Schon die Existenz der Septuaginta bestätigt die wichtige und ertragreiche Stellung mancher jüdischer Menschen und Gemeinden außerhalb von Israel/Palästina in der Antike. Denn die Entstehung bzw. erste Zusammenstellung dieses Werks stand vermutlich irgendwie in Verbindung mit der Bibliothek von Alexandrien. Zweifelsohne stellt die Septuaginta eines der größten literarischen Projekte der Antike dar und absolut sicher die wichtigste Übersetzung eines Werks in der Antike. Ohne die jüdische Diaspora wäre sie gar nicht zustande gekommen. Sie entstand in jüdischen Kreisen größtenteils außerhalb des Landes und sicherte ihre Existenz in einer Welt, in der man immer weniger die ursprünglichen Sprachen der heiligen Schriften (Hebräisch und Aramäisch) verstand.
Aber warum schreibe ich das alles? Was hat das mit uns zu tun? Diese biblischen Texte sollen unseren Blick verschärfen, dass Umbruch – ja selbst Abbruch! – nicht nur desaströs sein muss. Im Gegenteil: Biblische Überlieferung, wie auch die Überlieferung der Bibel selbst, bezeugen, dass Erfahrungen in Gefahr, in Situationen der Existenz als Minderheit, im Ausland, unter politischer Verfolgung usw. eine Chance darstellen können. Umbruch und Abbruch sind menschliche Zustände, die keine Aussage über Gottes segnende Anwesenheit treffen. Die Tatsache, dass der Tempel in Jerusalem in Trümmern lag, führte letztendlich dazu, dass das Judentum entstanden ist, aus dem auch das Christentum hervorgegangen ist. Biblische Zeugnisse und das Zeugnis der Überlieferung der Bibel als heilige Schrift ermutigen uns dazu, selbst in kritischen Zeiten immer an Gottes Nähe und Zuwendung zu denken. Und auf keinen Fall aufzugeben. Den liebenden, ewigen Gott der Versöhnung bezeugen wir, selbst wenn unsere Immobilien veräußert und Stellen im pastoralen Dienst gekürzt werden müssen. Bitten wir um Gottes Segen, selbst wenn unsere Umwelt uns fremd zu sein scheint. Suchen wir, so werden wir finden.